Das Unabwendbare annehmen. Das ist das Schwierigste. Am Erleiden eines Schicksalsschlages, an der Erfahrung des Unabwendbaren können wir jedoch reifen und wachsen. Wir beschreiten diesen dritten Weg, wenn wir das Unabwendbare, das sich unserer Gestaltungskraft entzieht, schliesslich annehmen und es uns gelingt, dem erfahrenen Leid trotz allem einen Sinn abzuringen - zum Beispiel dem Tod eines geliebten Menschen oder der Diagnose einer tödlichen Krankheit. Alfried Längle zitiert hierzu ein eindrückliches Beispiel von Viktor Frankl[4]:
Ein alter Mann kam zu Frankl in die Praxis ...
... er war selbst Arzt und klagte: "Herr Kollege, ich weiss eigentlich nicht, wozu ich komme, Sie können mir ja in Wirklichkeit nicht helfen, aber ich komme nicht über den Tod meiner Frau, die ich über alles geliebt habe, hinweg. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Ich bin hilflos. Medikamente könnte ich mir selbst verschaffen. Aber ich wollte einmal mit Ihnen sprechen" Was hätte Frankl ihm sagen sollen? Er hat ihm nichts gesagt, sondern ihn nur etwas gefragt: "Sagen Sie Herr Kollege, was wäre passiert, wenn nicht Ihre Frau, sondern wenn Sie selbst zuerst gestorben wären?" Darauf sagte er: "Mein Gott, was die arme Frau mitgemacht hätte, wie sie gelitten hätte!"
"Sie werden zugeben, dieses Leiden ist Ihrer Frau, die Sie ja über alles geliebt haben, erspart geblieben, allerdings um den Preis, dass Sie es jetzt übernehmen müssen, ihr nachzutrauern und sie zu überleben." In diesem Augenblick erkannte der Mann einen Sinn in seinem Leiden, den Sinn eines Opfers, das er für seine geliebte Frau brachte. Der Mann ist wortlos aufgestanden, hat Frankl die Hand gedrückt und ging tief bewegt davon (aus Frankl 1998 , zitiert nach Alfried Längle, 2007 , S. 57)
Solch ein Sinn kann niemals verordnet werden, er muss selbst gefunden werden, und Viktor Frankl, der selbst zwei Jahre im Konzentrationslager von Auschwitz unmenschliches Elend am eigenen Leibe erfahren musste, ist gegenüber dem Leid eines anderen Menschen zu demütig, als dass er mit einem schnellen Ratschlag daherkommt. Stattdessen stellt er dem untröstlich trauernden Arzt nur eine einfache Frage. Diese Frage ist kein Trick, sie ist Ausdruck von Zuwendung. Interesse am anderen. Interesse am Du. Und die Frage aller Fragen, die Frage nach dem "Wozu?" verstehe ich als eine Einladung, mit unserem Leben eine einzigartige, noch nie da gewesene Antwort zu geben. Wer sonst, wenn nicht wir selbst, könnte das tun?
Die existentielle Wende bedeutet, dass ich nicht mehr frage: 'Was bietet mir das Leben?' . Statt dessen lasse ich mich vom Leben fragen: 'Was ist Deine persönliche Antwort auf das, was das Leben Dir gerade bietet?'»
(Ingo Heyn)
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