Mittwoch, 25. Dezember 2024

Hoffnung

Wenn ein Baum, der keine Sonne bekommt, seinen Stamm der Sonne zudreht, können wir nicht sagen, dass der Baum genauso «hofft», wie das ein Mensch tut, da die Hoffnung beim Menschen mit Gefühlen und mit Bewusstsein verbunden ist, die der Baum wohl nicht besitzt. Und doch wäre es nicht falsch zu sagen, dass der Baum auf Sonne hofft und dass er diese Hoffnung dadurch zum Ausdruck bringt, dass er seinen Stamm der Sonne zudreht. Ist es denn etwas anderes bei dem Kind, das geboren wird? Es nimmt vielleicht noch nichts wahr und doch drückt sich in seiner Aktivität seine Hoffnung aus, geboren zu werden und selbständig atmen zu können. Hofft der Säugling nicht auf die Brust seiner Mutter? Hofft das Kleinkind nicht, aufrecht stehen und laufen zu können? Hofft der Kranke nicht, gesund zu werden, hofft der Gefangene nicht, frei zu werden, der Hungrige nicht, etwas zu essen zu bekommen? Hoffen wir nicht, am nächsten Tag wieder aufzuwachen, wenn wir abends einschlafen?
 
Erich Fromm: Die Revolution der Hoffnung. 1968

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