Montag, 20. Dezember 2021

Wortgläubigkeit

Man hat es bisher nicht deutlich und gründlich genug bemerkt, dass unsere Zeit, trotz der Überhandnahme der Irreligiosität, mit der Errungenschaft des christlichen Zeitalters sozusagen erblich belastet ist, nämlich mit der Herrschaft des Wortes, jenes Logos, der die Zentralfigur des christlichen Glaubens darstellt. Das Wort ist wortwörtlich zu unserem Gott geworden und ist es geblieben, auch wenn wir das Christentum nur noch vom Hörensagen kennen. Wörter wie «Gesellschaft» und «Staat» sind dermassen konkretisiert, dass sie beinahe personifiziert sind. Im Vulgärglauben ist der Staat, noch mehr als je ein König der Vorzeit, zum unerschöpflichen Spender aller Güter geworden, der Staat wird angerufen, verantwortlich gemacht, angeklagt usw. Die Gesellschaft wird zum Range eines obersten ethischen Prinzips erhoben, ja man traut ihr sogar schöpferische Fähigkeiten zu. Keiner scheint zu merken, dass die für eine gewisse Phase der historischen Geistesentwicklung nötige göttliche Verehrung des Wortes eine gefährliche Schattenseite hat. Im Augenblicke nämlich, wo das «Wort» durch jahrhundertelange Erziehung allgemeine Geltung erlangt, trennt es sich von seiner ursprünglichen Bindung an die göttliche Person. Es gibt dann eine ebenso personifizierte Kirche und — last not least — einen ebenso personifizierten Staat; der Glaube an das «Wort» wird zur Wortgläubigkeit, und das Wort selber zum infernalen Slogan, der jedes Betruges fähig ist. Mit der Wortgläubigkeit, d. h. durch Propaganda und Reklame, wird der Bürger übers Ohr gehauen, werden politische Kuhbändel und Kompromisse gemacht, und die Lüge erreicht Ausmasse, welche die Welt bisher nie gekannt hat. Damit ist das Wort, das ursprünglich eine Botschaft der Einheit der Menschen und ihrer Vereinigung in der Gestalt des einen grossen Menschen war, in unserer Zeit die Quelle der Verdächtigung und des Misstrauens aller gegen alle geworden. Die Wortgläubigkeit ist einer unserer schlimmsten Feinde, aber das Auskunftsmittel, das der Neurotiker immer wieder anruft, um den Gegner in seiner eigenen Brust zu überzeugen oder zum Verschwinden zu bringen. Man glaubt, man müsse es einem «nur sagen», was er tun «sollte», um auf den richtigen Weg zu kommen.

 

C. G. Jung, Gegenwart und Zukunft

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