Mittwoch, 22. Dezember 2021

Hohe Intelligenz und die Gaben des Herzens

Die Aufgabe, die unserer Zeit gestellt ist, muss als fast unmöglich hart bezeichnet werden. Sie stellt höchste Anforderungen an die «responsabilité», soll diese nicht wiederum zu einer «trahison des clercs» werden. Sie richtet sich in erster Linie an die Führenden und Einflussreichen, welche über die nötige Intelligenz verfügen, um die Situation unserer Welt zu begreifen. Man könnte von ihnen erwarten, dass sie mit ihrem Gewissen zurate gehen würden. Da es aber nicht nur um ein intellektuelles Begreifen, sondern auch um die moralische Schlussfolgerung geht, so besteht leider kein Anlass, hier zu optimistisch zu sein. Die Natur geht bekanntlich mit ihren Gaben nicht dermassen verschwenderisch um, dass sie zu einer hohen Intelligenz auch noch die Gaben des Herzens gesellt hätte. In der Regel fehlt, wo das eine vorhanden ist, das andere, und wo sich eine Fähigkeit vervollkommnet hat, ist es meist auf Kosten aller anderen gegangen. Ein besonders peinliches Kapitel ist darum gerade das Missverhältnis von Intellekt und Gefühl, die sich erfahrungsgemäss schlecht vertragen. Es hat keinen Sinn, die Aufgabe, die unsere Zeit und Welt uns aufzwingt, etwa als moralische Forderung zu formulieren. Man kann bestenfalls die psychologische Weltlage bloss so verdeutlichen, dass sie auch von den Kurzsichtigen gesehen zu werden vermag, und diejenigen Worte und Begriffe aussprechen, die auch Schwerhörige zu vernehmen imstande sind. Man darf auf das Vorhandensein von Verständigen und von Menschen guten Willens hoffen und darum nicht müde werden, jene Gedanken und Einsichten, deren es bedarf, immer wieder zur Sprache zu bringen. Schliesslich kann sich auch die Wahrheit einmal ausbreiten und nicht nur die populäre Lüge.

 

C. G. Jung, Gegenwart und Zukunft

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